Human Peace Project – Humanitäre Hilfe nach Erdbeben in der Türkei/Syrien – Ein Interview mit mit Issam Abdul-Karim
von Manuella Woywode, Project Peacemaker e.V.
Bild: Issam Abdul-Karim
Issam, du hast Angehörige im Erdbebengebiet. Zu welcher Region erlangst du Neuigkeiten und Informationen?
Im Süden der Türkei ist es die Küstenstadt Iskenderun und Batman im Südosten des Landes. Hier leben viele Verwandte von mir. In Syrien ist es Aleppo, wo ich viele Freunde und Bekannte habe. Seit dem verheerenden Erdbeben in der Nacht vom 5. auf dem 6. Februar telefonieren wir täglich miteinander. Da meine Verwandte, Freunde und Bekannte vom Erdbeben direkt auch betroffen sind, mache ich mir ernsthafte sorgen. Am Mittwoch erreichte mich eine traurige Nachricht aus Iskenderun. Meine Tante, die seit dem 6. Februar vermisst wurde, konnte leider zusammen mit weiteren sechs Nachbarn nur noch tot aus dem völlig zerstörten Haus geborgen werden. Das schreckliche Ereignis hatte sie alle, dem Anschein nach, schlafend in ihren Betten überrascht und getötet. Meine Cousine konnte zum Glück einen Tag zuvor lebend geborgen werden. Sie hat das Unglück leichtverletzt überlebt und ist derzeit bei Verwandten untergebracht. „Zwischen Glück und Unglück liegen machmal nur wenige Zentimeter!“ Es werden aber immer noch Verwandte von mir vermisst, so wie viele hunderte oder gar tausende weitere Menschen im gesamte Erdbebengebiet.
In Batman ist die Lage etwas besser. Trotz einiger kleinerer und stärkerer Beben, wurde diese Stadt im Südosten der Türkei von solchen dramatischen Bildern bisher verschont. Dennoch ist auch hier die Angst sehr groß und die Menschen trauen sich kaum noch in ihre Häuser zurück. Diese hatten sie während des Erdbebens fluchtartig verlassen müssen. „Mein Sohn, mir geht es gut und allen anderen hier auch. Aber die Nachbeben sind unberechenbar und wir haben Angst. Deshalb haben wir uns schutzsuchend, bei Verwandten mit ebenerdiger Behausung vorerst einquartiert“, berichtetet mir meine Tante unter Tränen am Telefon. Dieses digitale Medium stellt für uns und andere betroffene Menschen auch, über einen WLAN-Anschluss eine sogenannte seelische Brücke und Hilfe dar!
Aus der syrischen Stadt Aleppo erreichen mich leider auch nur traurige Nachrichten. Die Kriegsgebeutelte Stadt liegt nahe der Grenze zur Türkei und ist auch vom jüngsten Erdbeben stark betroffen. Die Menschen stehen immer noch unter Schock und haben Angst, sagt mir ein guter Freund vor Ort. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen, viele Gebäude sind zerstört und sie wissen nicht mehr weiter. Immer noch hören sie verzweifelte Stimmen von (noch) Überlebenden, die unter den Trümmerbergen scheinbar lebendig begraben sind. Erst der Bürgerkrieg und jetzt das verheerende Erdbeben haben der Stadt und ihren Anwohnern viel abverlangt. Die Ohnmacht aber auch die Kälte und das Gefühl, von der Außenwelt vergessen und auf sich selbst gestellt zu sein, sind hier spürbar. „Bitte Issam, wir brauchen Hilfe. Sag es deinen Freunden und Helfern in Deutschland. Vergesst uns bitte nicht!“, sagt mir mein Freund Jamal am Telefon und schickt mir zeitgleich ein Video auf WhatsApp, dass ein einstürzendes Mehrfamilienhaus in Aleppo zeigt. Eiligst und unter Panik versuchen die Menschen zu fliehen, um selbst nicht unter den Trümmern des einstürzenden Gebäudes begraben zu werden. Es macht mich traurig und fassungslos, das die Menschen hier nicht zu ruhe kommen und schnelle Hilfe erfahren!
Wie ist die Lage derzeit dort?
In den türkischen Erdbebengebieten kommen die Bergungsarbeiten trotz der vielen Helfer aus der ganzen Welt nur sehr schleppend und mühselig voran, weil schwere Werkzeuge und Fahrzeuge fehlen. Auch setzen Nachbeben die Menschen weiterhin in Angst und Schrecken. Die Verzweiflung und Sorgen sind groß, dass ein weiteres großes Erdbeben, für noch mehr Zerstörung mit noch mehr Toten und Verletzen sorgen wird. Die Situation ist sehr angespannt! Darüberhinaus finden im Mai Wahlen statt. Es liegt nahe, dass die vom großen Erdbeben betroffenen Provinzen für den Wahlausgang mitentscheidend sein werden. Daher bemühen sich Regierung und Opposition um gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich hoffe, dass sich der Wahlkampf nicht zum Nachteil der Hilfsarbeiten in den betroffenen Provinzen entwickeln wird. Denn neben den laufenden Bergungsarbeiten und den humanitären Hilfen, brauchen die betroffenen Menschen mittelfristig einen gut strukturierenden Plan des Wiederaufbaus, Perspektiven, Hoffnung und eine Regierung die anpackt und Hilft!
In Aleppo ist die Situation derzeit auch angespannt und ungewiss. Die Rettungsarbeiten gestalten sich unter den politischen Differenzen im Land und vor allem in den betroffenen Gebieten als sehr schwierig. Daher ist es derzeit schwierig, mit Hilfsgütern, Geräten und Helfern aus dem Ausland schnell und direkt über den Grenzübergang ´Bab al-Hawa´ in Nordsyrien in die betroffenen Gebiete zu gelangen. Die jeweils eigenen Interessen überwiegen. Daher bleibt zu hoffen, dass die Internationale Politik schnell zu einer Einigung mit den Machthabern vor Ort kommt, damit dringend benötigte Hilfe ungestört dort ankommt, wo sie am meisten gebraucht wird. Eine zumindest zeitweilige Aufhebung der Sanktionen könnte ein Diplomatischer und hilfreicher Ansporn hierfür sein!
Aktuell wird jede internationale Hilfe benötigt. Welche Art von Spenden wird am meisten gebraucht?
In der aktuellen Situation wird jede Hilfe benötigt. Insbesondere werden Sachspenden wie warme Kleidung für Frauen, Männer und Kinder (aus rechtlichen Gründen, nur originalverpackte Ware mit Etikett), Zelte, Schlafsäcke, warme Decken, Rollstühle, Gehhilfen, einfaches medizinisches Material benötigt und Nothilfe-Pakete mit Wasser und Nahrungsmittel. Als sehr effektiv zu helfen haben sich Geldspenden erwiesen. Hier können Helfer-Organisationen schnell benötigtes Material nach Bedarf selbst vor Ort besorgen und man spart sich den ganzen logistischen Aufwand mit Genehmigungen, Transport und Wartezeiten. Aus diesen Gründen, haben mir Helfer aus Aleppo für diese Art der Hilfe geraten!
Du hast bereits einiges an Hilfe organisieren können. Wie gestaltet sich diese?
Die Bereitschaft zu helfen ist in der Bevölkerung und vor allem unter den Migranten sehr groß. Viele Familien kaufen Babynahrung, warme Klamotten usw. und bringen sie direkt zu den Sammelstellen. Es gibt aber auch welche, die in Kartons verpackte Klamotten abgeben. Beim sortieren stellt man dann allerdings fest, dass der gute Wille zu Helfen am Bedarf der betroffenen Menschen vorbei gespendet wurde. So sind zum Beispiel Modeschmuck, High Hills und Unterwäsche dabei. Das ist zwar nett, aber nicht hilfreich. Hier ist es wichtig, dass man bei den Sachspendenaufrufe nur den Bedarf anzeigt, der dringend benötigt wird und nichts anderes. Das spart Zeit, Platz und Helferhände! Aufgrund der schwierigen Situation in Nordsyrien, bitten wir hier ausschließlich um Geldspenden.
In welchen Regionen siehst du den notwendigsten Bedarf an Hilfe?
Im Prinzip sind alle Provinzen rund um das Epizentrum betroffen und brauchen schnelle und professionelle internationale Hilfe. Dazu gehören ua. in der Türkei die Städte Hatay, Kahramanmaras, Gaziantep, Diyarbakir, Adana, Osmaniye, Sanliurfa und Iskenderun und in Nordsyrien die Provinzen Idlib und Aleppo.
Wie sieht es in Nordsyrien aus? Was macht die Unterstützung dort so schwer?
Wie bereits erwähnt, gestaltet sich die humanitäre Hilfe in Nordsyrien als sehr schwierig. Das liegt nach Medienberichten zum Teil daran, dass der Verkehr über den einzigen noch verbliebenen Grenzübergang ´Bab al-Hawa` für Hilfslieferungen derzeit erschwert bzw. gestört ist. Daher sei dieser, wegen erheblicher Schäden an einer Zufahrtsstraße nicht befahrbar und muss saniert werden. Es heißt aber auch, dass die syrische Regierung und ihr verbündeter Russland in den vergangen Jahren Schritt für Schritt die Übergänge reduziert haben, um die dortige Opposition zu isolieren und einzukesseln. Über den einzigen noch verbliebenen Grenzübergang wird derzeit viel diskutiert und gestritten. Es bleibt aber die Hoffnung, auf eine schnelle und diplomatische Lösung im Interesse aller beteiligten. Für die seit vielen Jahren unter dem Bürgerkrieg und aktuell vom verheerenden Erdbeben Notleidenden und betroffenen Menschen ist aber eine schnelle, internationale und längerfristig angesetzte Hilfe die einzigste Option auf bessere Zeiten!
Momentan ist die Hilfsbereitschaft ja sehr hoch. Siehst du hier auch eine Chance, dass diese längerfristig anhalten wird?
Ich kann leider nicht in die Zukunft schauen. Aber angesichts der derzeitigen Hilfsbereitschaft aus der ganzen Welt, haben führende und reiche Länder ihre Hilfe und Solidarität für die Türkei und Syrien angesichts des verheerenden Erdbebens ausgesprochen. Demnach sollen beide Länder neben Sachspenden auch Hilfszahlungen in mehrstelliger Millionenhöhe allein aus den Vereinigten Arabischen Emiraten erhalten. Laut Medienberichten hat auch Bundeskanzler Scholz weitere umfassende Hilfe zur Bewältigung dieses Unglücks zugesagt. Ähnliche Aussagen kommen auch aus anderen Ländern. Daher kann ich nur hoffen und appelliere an dieser Stelle, dass nach den gemachten Aussagen auch Taten folgen!
Denn das Leid und das Ausmaß der Zerstörungen werden leider nicht über Nacht erledigt sein. Viele Menschen haben kein Zuhause mehr und wissen nicht wohin. „Issam, du kannst es dir nicht vorstellen, wie kalt es hier ist. Wir haben drei Nächte im Auto verbracht und sind total fertig“, erzählt mir mein Cousine über unsere WhatsApp-Telefonverbindung. Weiter machen eisige Temperaturen um den Gefrierpunkt den Überlebenden und Helfenden zusätzlich zu schaffen. In Deutschland bangen immer noch Angehörige um ihre Familien, die in den betroffenen Erdbebengebieten rund um das Epizentrum leben. Manche haben Gewissheit über ihre Angehörigen und wieder andere brechen weiter auf, um zu helfen, um auch verschüttete zu bergen. Eine weitere Hilfe wäre, die humanitäre Einreise von Opfern der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien zu ihren Angehörigen nach Deutschland zu holen zu ermöglichen und zu erleichtern. An dieser Stelle, ist die Bundesregierung aufgefordert, spezielle Aufnahmeprogramme für die Katastrophenopfer aufzulegen, um auch das Trauma und die Folgen der Naturkatastrophe schnell und ohne lange Wartezeiten, in einem vertrauten sozialen Umfeld in Deutschland zu verarbeiten und sich zu erholen.
Es wird Jahre dauern, bis die physischen Schäden behoben sind. Während die psychischen Belastungen der überlebenden aufgrund des Verlustes eines geliebten angehörigen ein lebenslanges Trauma hinterlassen werden. Darauf muss man sich jetzt schon einstellen und eine professionelle und langfristig angesetzte Hilfe anbieten. „Wir stehen am Anfang eines langen Weges!“